Zwölf Überlegungen von Bundestrainer Richard Trautmann
Nachwuchs Bundestrainer Richard Trautmann sucht den Weg zu langfristigem Erfolg. Er rät, sich einiges von der japanischen Trainingskultur abzuschauen. Ein Auszug aus seinem Jahresbericht.
Eine Philosophie ist es, dort zu trainieren, woher die Besten kommen. Dort, wo es vielleicht unbeguem ist und auch mal weh tut. Hier ist die Dezember-Maßnahme der Junioren in Japan immer ein wichtiger Baustein. In der Entwicklung der Athleten, aber auch die Trainingslager in Usbekistan, Kasachstan oder die Maßnahme in Korea . Neben der Auseinandersetzung mit den ungewohnten Stilarten ausländischer Topjudokas ist es lehrreich, ihre Trainingsmethoden zu studieren und zu erkennen, unter welch einfachen, manchmal fast archaischen Bedingungen Weltspitzenleistungen erarbeitet werden. Das schärft den Blick für das Wesentliche.
Oberste Priorität muss nach wie vor die technisch-taktische Ausbildung haben sowie das Entwickeln von mentaler Stärke und Zielorientierunq. Im physischen Bereich gilt es, ein jederzeit konkurrenzfährqes Niveau sicherzustellen. Aber es sollte sicherlich kein Ziel sein, hier Rekorde aufzustellen, wenn dies zu Lasten der technisch-taktischen Ausbildung geht Athleten, die sich nur auf Grund ihrer Physis durchsetzen, werden es später schwer haben. Bei den Männern sind alle physisch extrem stark, den Unterschied machen dort wieder die mentale Stärke und die technisch-taktischen Fähigkeiten.
Da die aktuellen Regeländerungen klassisches japanisches Judo eindeutig bevorzugen und es tendenziell immer weniger Fleißbildehen in Form von Inaktivitätsstrafen gibt, sollten wir noch mehr Augenmerk auf folgende Punkte legen: eine solide, klassische Grundausbildung; das Eindrehen mit zwei Händen am Mann; Ashi-waza (Fegen und Sicheln), Kontertechniken und den Übergang Stand-Boden. Zudem sehr wichtig sind das Erarbeiten einer stabilen Kumi-kata-Konzeption gegen beide Auslagen als Grundlage für einen dominanten und angriffsorientierten Kampfstil sowie das intensive Studium funktionierender Aktionen zur Angriffsvorbereitung und hier insbesondere das Bewegen des Gegners. Je höher das Niveau wird, umsoweniger reicht es aus, nur Situationen zu nützen. Erfolg versprechende Angriffssituationen müssen geschaffen werden, um die eigenen Spezialtechniken durchsetzen zu können.
WAS IN JAPAN ANDERS IST
Die Gesamtumfänge,die ein japanischer Nachwuchsathlet absolviert, sind nicht höher als an einer deutschen Sportschule (drei bis vier Stunden pro Tag). Die Gewichtung der Trainingsinhalte ist aber deutlich anders und die Trainingsintensität um ein Vielfaches höher. Auffällig ist darüber hinaus, dass Trainer wie Athleten extrem aufs Detail achten und insgesamt in ihren Handlungen sehr konsequent sind.
Die Präzision, die japanische Nachwuchsjudokas in ihren wichtigsten Techniken an den Tag legen, wird auch von unseren Männern nicht mal ansatzweise erreicht. Wer die WM in Tokio und den jüngsten Kano-Cup verfolgt hat, konnte sehen, dass sich bereits einige der jungen japanischen Athleten, die 2009 und 2010 bei den Junioren erfolgreich waren, aufs Treppchen vorkämpften, auch wenn sie physisch zum Teil noch unterlegen waren - oder zumindest so aussahen.
Einige Überlegungen zu den Gründen:
1. Randori-Zahl: Ein japanischer Nachwuchsjudoka macht in einerTrainingseinheit in etwa soviele Randoris wie ein deutscher Nachwuchsathlet in einer Woche. Er absolviert aber fünf bis sechs Randori-Trainingseinheiten pro Woche.
2. Randori-Pausen: Pausen von ein, zwei Minuten bis hin zu fünf Minuten gibt es im japanischen Randori-Training eigentlich nie. Auch unsere Jungs haben dieses Randori ohne größere Probleme überstanden. Da die Randori-Belastungen im Schnitt immer in einer Stoffwechsellage zwischen 3-4 mmoll Laktat absolviert werden, gibt es eigentlich auch keinen Grund, ständig Pause zumachen.
3. Randori-Kultur: Die japanische Randori-Kultur ist eine ganz andere als in Deutschland. Ziel ist es nicht, möglichst jede gegnerische Aktion zu unterbinden, um das Randori "zu gewinnen", sondern sich selbst so viele Angriffsmöglichkeiten zu schaffen wie möglich.
4: Verteidigung im Randori: Findet in erster Linie über Blocken und Ausweichen statt, nicht durch den Griff.
5. Griffkampf im Randori: Trotzdem wird kompromisslos um den Griff gekämpft. Wichtig ist aber, den eigenen optimalen Griff zu erarbeiten, um auf djeser Basis erfolgreich angreifen zu können. Griffkampf findet eigentlich nie nur dazu statt, den Griff des Gegners möglichst zu zerstören.
6. Möglichkeiten im Randori: Das alles führt dazu, dass sich japanische Judokas vom Randori zum Wettkampf meist noch mal deutlich steigern können, was bei unseren Judokas leider nur selten der Fall ist. Gleichzeitig eröffnet das so geführte Randori eine viel größere Anzahl an Möglichkeiten, das Timing des Angriffs, des Gegenangriffs und die Verteidigungssituationen zu trainieren.
7. Randori·Partner: Randori findet ohne Rücksicht auf die Gewichtsklasse zwischen allen Mitgliedern einer Trainingsgruppe statt. Gerade die Auseinandersetzung mit wesentlich leichteren oder schwereren Trainingspartnern führt zu interessanten Situationen und fördert Fertigkeiten, die so bei uns gar nicht trainiert werden. Außerdem hat dadurch jeder bedeutend mehr Partner. Die Konzentration auf den Ärmel-Revers-Griff, der das Durchsetzen auf Grund physischer Überlegenheit deutlich einschränkt, macht solche Randoris attraktiv. Der Verzicht auf Maki-komi·Techniken, Tani-Otoshi oder das Durchsetzen bestimmter Techniken wie O-Soto-Gari nur mit Gewalt und wider jede Biomechanik ermöglicht ein solches Randori ohne größere Verletzungsgefahr. Auch in kleineren Trainingsgruppen wird eine sehr hohe Anzahl an Randoris absolviert. Man macht dann eben mit jedem Partner mehrere Runden. Auffällig ist auch, dass starke japanische Judokas einen fast immer sofort zu einer zweiten oder gar dritten Randori-Runde auffordern, wenn das Randori in ihren Augen unbefriedigend ausgefallen ist. Sie arbeiten also sofort an einer Lösung, wenn sich der Gegner als stark oder unbequem erweist.
8. Weitere Trainingsformen: Eine untergeordnete Rolle spielen das Nage-komi sowie Yaku-socku-gaiku. Diese Trainingsformen werden regelmäßig absolviert, doch selten finden mehr als 30 Wiederholungen statt, da niemand gerne so oft fällt und diese Trainingsform insgesamt einen zu großen zeitlichen Aufwand bedeutet in Relation zum erreichbaren Trainingseffekt.
9. Die Rolle von Uchi-komi: Extrem wichtig ist dagegendas Uchi-komi. 200 bis 500 Uchi-komi pro Trainingseinheit in den unterschiedlichsten Formen sind absolut üblich. Sind Kuzushi (Gleichgewicht brechen) und Tsukuri (sich in eine optimale Position zur Wurfausführung und Kraftübertragung bringen) optimal ausgeführt worden, ist das Kake (Werfen) ein Kinderspiel. Daher sollte ein wesentlich höheres Augenmerk und damit auch ein wesentlich höherer Anteil der Trainingszeit auf Kuzushi und Tsukuri verwendet werden. Diese beiden Phasen lassen sich optimal und vor allem auch zeitlich sehr ökonomisch mit der Trainingsform Uchi-komi trainieren.
10. Die Verteilung: Nakanishi·Sensei von der Tokai-Universität bemüht hier den Vergleich mit einem Schwertkampf. Um in der Schlacht erfolgreich zu sein, braucht man ein scharfes Schwert und man muss fechten können. Mit Tausenden Uchi-komis wird die Technik (das Schwert) scharf gemacht, in den unzähligen Randoris wird man in allen Aspekten des Kämpfens (des Fechtens) geschult - vor allem im Timing von Angriff, Konter und Verteidigung. Daher nehmen diese beiden Trainingsformen den Löwenanteil am japanischen Training ein.
11. Trainingsdauer: Üblich sind auch im Nachwuchs extrem lange Trainingseinheiten. Zweieinhalb bis drei Stunden am Nachmittag sind üblich. Eine der Zielstellungen, neben der allgemeinen Zielstellung hoher Umfänge, ist es, die Athleten im Zustand physischer Erschöpfung immer noch zu fordern. In diesem Zustand kann man nichts mehr mit Kraft verhindern oder mit Gewalt durchsetzen. Entweder das Timing stimmt oder es funktioniert eben nicht. Außerdem soll so auch der Willen geschult werden. Hierzu wird oft noch nach einer extrem langen Randori-Einheit etwa eine halbe Stunde Uchi-komi oder Kraftausdauertraining mit dem eigenen Körpergewicht oder mit Partnerübungen absolviert, wobei häufig Paare gebildet werden, die sich gegenseitig unterstützen und anstacheln.
12. Körperliche Voraussetzungen: Auffällig ist, dass das physische Training im Wesentlichen auf die Entwicklung der Bein- und Rumpfmuskulatur abzielt. Dafür werden ganz überwiegend Kraftausdauertrainingsmethoden angewendet. Die Oberkörpermuskulatur wird außer durch gelegentliches Hangeln (hier sind unsere Athleten meist deutlich besser) in erster Linie durch Judoselbst trainiert. Ein gezieltes Hanteltraining erfolgt sehr spät, meist erst im Erwachsenenalter. Trotzdem empfinden unsere Athleten die Japaner als sehr kräftig, was dafür spricht, dass die spezielle Kraft sehr ausgeprägt ist. Zusätzlich sind ausnahmslos alle extrembeweglich - Spagat kann eigentlich fast jeder bessere japanische Athlet. Die Grundlagen hierfür werden wohl schon im Kindertraining gelegt, das Dehnen wird aber immer weiter kultiviert und gepflegt. Sicherlich lässt sich nicht alles eins zu eins übernehmen. Doch einige Trainingsinhalte - die bei uns unhinterfragt seit Jahren gleich absolviert werden - sollten zumindest überdacht werden. Macht ein japanischer Judoka pro Woche im Schnitt 100 Randori und 1500-2000 Uchi-komi und der Deutsche im Schnitt 20-30 Randori und 200-300 Uchi-komi, muss sich das auf die Dauer auswirken.
Quelle: Judo-Magazin 4/11