Hat Erwin Bälz Kano zum Jujutsu gebracht?
von Wolfgang Dax-Romswinkel 6. Dan
Nicht alles, was häufig behauptet wird, stimmt auch. Wir räumen mit Irrtümern auf, die in vielen Köpfen fest verankert sind, und tauchen dabei tief in die Judomaterie ein.
In hiesigen Judokreisen ist der Name des von 1876 bis 1905 in Tokio lehrenden Medizinprofessors Erwin Bälz relativ geläufig, denn in der deutschsprachigen Judoliteratur ist häufig zu lesen, dass er über den körperlichen Zustand der japanischen Studenten äußerst beunruhigt gewesen sei, dass er den Studenten Jujutsu als körperliche Übung empfohlen habe und dass schließlich einer dieser Studenten, nämlich Jigoro Kano, daraufhin mit dem Studium des Jujutsu begonnen hätte und später daraus das Kodokan-Judo entwickelte.
Mitunter wird sogar kolportiert, Bälz sei einer der Jujutsu-Lehrer Kanos gewesen. In der wissenschaftlichen Literatur findet man hingegen klare Aussagen dahingehend, dass die Rolle von Bälz in Judokreisen oft überbewertet wird. Was stimmt nun?
Erwin Bälz wurde am 13. Januar 1849 in Bietigheim geboren und war von 1876 an nahezu 30 Jahre lang als Professor für Medizin an der kaiserlichen Universität in Tokio tätig . Heute gilt er als einer der zentralen Mitbegründer der modernen Medizin in Japan. Daneben war er ein bedeutender Anthropologe, Ethnologe und Leibarzt des japanischen Kaiserhauses. Insbesondere kümmerte er sich um den kränklichen Kronprinzen, den späteren Taisho-Tenno Yoshihito (1879 bis 1926). Ohne Übertreibung kann man Erwin Bälz als einen der angesehensten Ausländer im damaligen Japan bezeichnen.
Fürsprecher der Kampfkünste
Normalerweise werden die 1931 von seinem Sohn Toku Bälz veröffentlichten Tagebücher oder das von Bälz 1906 verfasste Vorwort zu Hancock/Higashis "Das Kano Jiu-Jitsu" zur Klärung solcher Fragen herangezogen. Dort beschreibt Bälz selbst seine Bemühungen um die Einführung der Kampfkünste in die Leibeserziehung zum Ende des 19. Jahrhunderts. Es gibt aber auch einige in Japan erschienene Aufsätze von Bälz sowie zeitgenössische Zeitungsartikel, die seine Verdienste untermauern. Stellvertretend werden in der Folge einige relativ unbekannte Quellen zitiert, die Heiko Bittmann dem deutschsprachigen Publikum 2010 dankenswerterweise zugänglich gemacht hat (siehe Lesetipps).
1884 schreibt Bälz für die Zeitschrift der Großjapanischen Gesellschaft für Erziehung:
Blickt man auf die vormaligen Samurai zurück, dann waren diese im Vergleich zu heutigen Japanern sowohl stärker und größer als auch kraftvoller. Dass sie offensichtlich überlegener waren, lag sicherlich an der damaligen Erziehung, die nicht nur das Lesen und Schreiben vorsah, sondern verschiedene körperliche Übungen mit dem Pferd und dem Bogen, dem Schwert und der Lanze usw. beinhaltete. (…) Da niemand da ist, der darüber ernsthaft nachdenkt, wird der Körper der Japan er immer schwächer und man kann keinerlei Anzeichen eines Stärkerwerdens erkennen. Folglich ist es unvermeidbar, dass auch die Kinder, die nun geboren werden, schwächlich sind und leicht erkranken. Das ist wirklich bedauerlich!
Deutlich kommt die Sorge über einen körperlichen Verfall der japanischen Bevölkerung zum Ausdruck, aber auch der Verweis auf das Betreiben der Kampfkünste als mögliche Gegenmaßnahme ist unübersehbar. Noch deutlicher wird Bälz zwei Jahre später, 1886, in der "Abhandlung zur Verbesserung der japanischen Rasse", erschienen in der Zeitschrift der Großjapanischen Privaten Gesellschaft für Hygiene:
Selbst wenn der Körper der Japaner klein ist und die einmalige Arbeitsleistung einen nicht in besonderes Erstaunen versetzt, sind die Japaner von ihren natürlichen Begabungen her doch in vielen Bereichen sehr geschickt. Man sollte sich daher darum bemühen, diese Fähigkeiten zu üben und zur Entwicklung zu bringen. Welchen Grad an Nutzen die Bemühungen von Übung haben, kann man am Jujutsu sehen. Ich wünsche mir, dass diese Methode der körperlichen Erziehung in allen Schulen durchgeführt wird.
In den Jahren 1883/84 war Erwin Bälz Mitglied einer Kommission des Erziehungsministeriums gewesen, die verschiedene Kampfkünste auf ihre Eignung als Schulsport untersucht hatte . Einbezogen waren mehrere Jujutsu- und Kenjutsu-Schulen (Vorläufer des heutigen Kendo). Die Kommission gab keine Empfehlung, vornehmlich aus Gründen der Verletzungsgefahr und des Risikos der moralischen Verrohung der Schüler.
Fünf Jahre später, 1889, hat dann Jigoro Kano in einem Vortrag vor der Großjapanischen Gesellschaft für Erziehung - jener Gesellschaft, in deren Zeitschrift Bälz zuvor für die Kampfkünste als Leibeserziehung geworben hatte das Kodokan-Judo als ein Erziehungssystem vorgestellt, das Leibesübung und geistig-moralische Erziehung verbinden sollte.
Im Jahr 1890 äußert sich Bälz zur Leibeserziehung für Mädchen:
Ich wünsche mir dringlichst, dass sie sich täglich unbedingt zwei bis drei Stunden bewegen. Doch ob dieser Wunsch bei der derzeitigen Situation in Japan in der Erziehung überhaupt verwirklicht werden kann oder nicht, das liegt nicht in meiner Macht. Wenn wir von der Körperübung der Mädchen sprechen, dann ist, wie ich bereits zuvor sagte, ihre erste Zielsetzung, die Blutstauung zu verhindern. Dafür ist es gut, Spaziergänge zu machen, zu tanzen, die Schwertkunst zu erlernen oder die Hellebarde zu benutzen.
Erwin Bälz mahnte also in der Tat immer wieder zu mehr Leibesübungen, war sich aber auch darüber bewusst, dass er nicht überall auf offene Ohren stieß. Das Spektrum der verschiedenen Übungen, die er empfahl, schloss dabei vor allem die traditionellen Kampfkünste Japans mit ein, denen er einen hohen Wert für die Leibeserziehung beimaß. Dies tritt in folgendem Tagebucheintrag vom 18. April 1904 noch einmal deutlich zutage:
Ich muß mich über die erstaunliche Rüstigkeit des 73jährigen Kitabatake wundem, der den ganzen Tag mit mir in den Tempeln umherwanderte, ohne irgendwie zu ermüden. Er trieb früher viel Jiujitsu. Dies ist die beste körperliche Übung, die es überhaupt gibt.
Die eigenen Erfahrungen
Dank der Tagebucheintragungen können Bälz' Kontakte mit den Kampfkünsten sehr gut nach gezeichnet werden. Im April 1879 besaß Bälz, der in seiner Jugend in Deutschland gefochten hatte, demnach bereits 25 japanische Schwerter, den Gebrauch sah er allerdings erst Monate später zum ersten Mal, wie im Tagebucheintrag vom 3. August 1879 festgehalten:
Heute war in Ueno (Amn.: Stadtteil von Tokio) großes Schwertfechten. Schon oft und viel hatte ich davon gehört. Hier sah ich es zum erstenmal, und zwar in einer Vollständigkeit, wie angeblich nicht seit zehn Jahren.
Vier Monate später findet sich ein Tagebucheintrag, demzufolge Bälz bereits das japanische Bogenschießen betrieb. Einige Jahre später nahm er Unterricht beim damals bekanntesten Fechtmeister Japans, Kenkuchi Sakakibara. In einem Zeitungsartikel vom
14. Juni 1883, erschienen in der Kaika Shinbun, ist zu lesen:
Die Schwertkunst unseres Landes istnicht nur als Schutzmaßnahme gegen den Notfall geeignet. Sie ist auch vom Standpunkt der Hygiene her gesehen wirkungsvoll. Deshalb ist Doktor Bälz, die Lehrkraft der medizinisehen Fakultät der Universität. Vergangenett April in die Schule von Herrn Sakekibara Kenkichi eingetreten.
Zwei Wochen später erscheint folgende Meldung in der Iji Shinbun ("Zeitung für Medizin"):
Dazu wurde Herr Sakakibara Kenkichi eingeladen, um die Schwertkunst (Kenjutsu) zu unterrichten. Auch Herr Doktor Bälz, die Lehrkraft für innere Medizin, versuchte sich darin, und da er es sehr befürwortet hat, nimmt seither täglich die Zahl der Personen zu, die in diese Abteilung eintreten.
Aus diesen beiden Meldungen geht hervor, dass Erwin Bälz das japanische Fechten erlernte und dies offenbar nicht nur öffentliches Interesse erregte, sondern zusätzlich - wie er auch im Vorwort zu Hancock/Higashis „Kano JiuJitsu" schreibt - eine Sogwirkung auf andere Interessenten hatte.
Bälz und Jujutsu
Der Erstkontakt mit Jujutsu lässt sich dagegen nicht so genau datieren, da Bälz selbst widersprüchliche Hinweise dazu gibt. Zum einen schrieb er, dass man ihm als 30-Jährigen keinen Unterricht erteilen wollte - dies würde etwa den Jahren 1879/80 entsprechen. Zum anderen verlegt er die Bekanntschaft mit Jujutsu auf die Zeit, in der er Fechten lernte, also (maximal) drei Jahre später. Der erste Kontakt von Bälz mit Jujutsu war also irgendwann zwischen 1879 und 1883, wobei der frühere Zeitpunkt der wahrscheinlichere ist.
Als sicher kann man dennoch annehmen, dass Bälz keinesfalls Jigoro Kano angeregt haben kann, Jujutsu zu lernen, da dieser bereits Jahre vorher ab 1877 - Jujutsu (genauer: Tenjin-shinyo-ryu-Jujutsu) unter Hachinosuke Fukuda lernte. Sicher ist aber auch, dass sich beide kannten und auch fachlich austauschten. So lesen wir in Bälz' Tagebuch vom 12. Dezember 1903:
Mittags bei Hohler, von der engl. Gesandtschaft mit den Jiujitsu-Lehrern Kano und Tomita. Kano hat sich mit seiner reformierten Methode des Jiujitsu ein großes Verdienst um sein Volk erworben. Es gibt wohl kein vollkommeneres Mittel, um den Körper zu kräftigen und systematisch durchzubilden.
Wann und wie Bälz und Kano sich kennenlernten, ist nicht genau bekannt. Am wahrscheinlichsten erscheint die gemeinsame Bekanntschaft mit Kinnosuke Miura (1864 -1950), einem Schüler der Tenjin-shinyo-ryu , der Kano vom Jujutsu her kannte. Beide trainierten frühestens ab 1879 im selben Dojo unter der Leitung von Keitaro Inoue.
Miura - später ein weltbekannter Mediziner - studierte nicht nur bei Bälz, sondern diente ihm auch jahrelang als Dolmetscher.
Wie verhält es sich also um Bälz und die Judoentwicklung? Bälz empfahl japanischen Stellen nachdrücklich Jujutsu (neben anderen Kampfkünsten) als ideale Formen der Leibeserziehung. Kano entwickelte Judo aus dem traditionellen Jujutsu als ganzheitliches Erziehungssystem, in dem Leibeserziehung einen wichtigen Stellenwert hatte. Dies propagierte er zeitlebens. Des Weiteren kannten sich Kano und Bälz. Inwiefern die Ideen und das Wirken von Bälz Eintluss auf die Evolution von Jujutsu zum Erziehungssystem -dem Kodokan-Judo Jigoro Kanos- hatte, lässt sich nach aktueller Quellenlage jedoch nicht beantworten. Man kann jedoch sagen, dass Kano das umgesetzt hat, was Bälz für die Erziehung der japanischen Jugend wünschte und was er gegenüber Staat und Politik wiederholt anmahnte. Und man kann davon ausgehen, dass Kano in der Zeit des konzeptionellen Wandels vom Jujutsu zum Kodokan-Judo in den 1880er-Jahren die Veröffentlichungen von Bälz kannte.
Dass Kano aber erst auf Anregung von Bälz mit dem Jujutsu-Training begonnen haben soll, ist ein Mythos: Kano betrieb Jujutsu, bevor er Bälz kennenlernte und bevor dieser mit Jujutsu in Kontakt gekommen war. Eben so sicher ist, dass Kano nie von oder bei Bälz Jujutsu gelernt hat. Bälz hat es nie selbst betrieben.
Lesetipps: Bälz und Kano
Bennett, Alex: JigoroKano and the Kodokan - an innovative Response to Modemisation, Kodokan Judo Institute, 2009
Bittmann, Heiko: Erwin um Baelz und die körperlichen Übungen, Bittmann-Verlag 2010
Niehaus, Andreas: Leben und Werk Kano Jigoros (1860-1938), Ergon-Verlag, 2003
Senning Dorothea: Dr. Erwin Bälz: Vater der modernen Medizin in Japan, Japan Magazin 172/173, Verlag Dieter Born , Bonn 2010
Quelle: Judo-Magazin 3/13