und das Problem der Versportlichung
von Anastasia Peschkow*
Der japanische Begriff für „Etikette“ lautet reigi (礼儀) und beinhaltet das kleine Wörtchen „rei“, das als Gruß verwendet wird und im Karate unabdingbar ist. Rei drückt Respekt, Höflichkeit und Aufrichtigkeit aus. Wie Gichin Funakoshi, der Begründer des modernen Karate bereits sagte, „Karate-dō beginnt mit Respekt und endet mit Respekt“.
Wenn man in Japan ein dōjō, eine Wettkampffläche oder eine Turnierhalle betritt bzw. verlässt, verbeugt man sich und sagt mit lauter Stimme „osu“ (押忍) aus Respekt, dass man trainieren darf und etwas beigebracht bekommt. Osu meint die Haltung, dass man geduldig und strebsam ist und sich um die Überwindung der Alltagssorgen und -probleme bemüht. Selbst wenn man im Kampf verliert, gilt es, keine Rachegefühle zu hegen, zu schmollen oder in Zorn zu verfallen. Es gehört sich, seine Gefühle bzw. sein „Ich“ zu verbergen; das haben auch die Kinder an erster Stelle zu lernen. Der Sieger verlässt aus Rücksicht auf die Gefühle des Verlierers diszipliniert die Kampffläche, ohne vor Freude Luftsprünge zu machen.
Ein wichtiger Bestandteil der Etikette ist die Ordnung. Bevor man den Trainingsraum betritt, werden die Schuhe ordentlich hingestellt und die eigenen Sachen ordentlich gefaltet und am Rand abgelegt. Es wird großen Wert auf die eigene körperliche Hygiene und die Sauberkeit des gi gelegt.
Da alle im dōjō wie eine große Familie sind, gibt es im Laufe des Jahres nicht nur Trainingsfahrten und Turniere, sondern auch spontane, gemeinsame Fahrten ans Meer, in die Berge zum Snowboard- oder Skifahren oder sogar nach Hawaii. Dennoch gibt es in dieser Familie ein Rangsystem, das aus senpai und kōhai besteht. Der kōhai (後輩) hat sich unterzuordnen und der Obere, senpai (先輩) passt auf diesen auf und hilft ihm. Jeder ist den anderen sowohl senpai als auch kōhai, da in der Hierarchie immer einer über dem anderen steht.
Im traditionellen Karate-dō wird am Anfang und am Ende des Trainings großer Wert auf seiza (正座) und mokuso (黙 想) gelegt. In diesen einigen Minuten des stillen Sitzens konzentriert man sich auf das Training und wirft alle anderen Gedanken und Sorgen des Alltags fort. Die Schüler erreichen einen harmonischen Gleichklang untereinander und passen sich der dōjō-Atmosphäre an. Die recht angenehme Atmosphäre im dōjō fordert eine positive Einstellung zu den eigenen Fähigkeiten und nicht minder zum Leben. Die Voraussetzung für ein sowohl praktisch als auch theoretisch gelungenes Training ist der stete Gehorsam der Schüler, d.h. jeder hat den Kommandos des Lehrers Folge zu leisten. Sollte jemand zu spät kommen, gehört es sich, kurz allein zur Vorderseite des dōjō hinzuknien und zu meditieren. Anschließend geht der Zuspät- Kommende zum Lehrer, entschuldigt sich für die Verspätung und sagt, dass er mit dem Training beginnt. Wenn das Training zu Ende ist, werden der Boden sowie die Fenster und Wände auf Knien und Füßen gewaschen. Einerseits wird dadurch das dōjō sauber gehalten, andererseits dient diese Übung dazu, den eigenen Geist weiterzuentwickeln. Die Anfänger, die zumeist nicht daran gewöhnt sind, vor einer Gruppe den Boden zu waschen, gehen nur sehr zögernd auf die Knie. Sie sehen es als erniedrigend an und das egoistische Ich verbietet es ihnen. Es kostet sie große Überwindung, aber zumeist wird dem Neuling einfach ein Lappen in die Hand gedrückt. Egal ob senpai oder kōhai, alle sind in diesem Moment gleich und stehen auf der gleichen Stufe. Das Waschen auf den Knien lehrt vor allem die senpai, sich nicht als etwas Besseres anzusehen, sondern die Bereitschaft zu entwickeln auch von den kōhai zu lernen.
Wenn der Lehrer hereinkommt, verbeugen sich alle und begrüßen ihn. Manchmal geht es so weit, dass die Kinder zum Abendtraining kommen und zum Lehrer statt „Guten Abend“ „Guten Tag“ sagen. In der Meinung er könnte schlecht von ihnen denken, gehen sie noch einmal zum Lehrer hin, entschuldigen und berichtigen sich.
Ähnlich ist es bei den Prüfungen. Wenn die Schüler selber nicht mit sich zufrieden sind, gehört es sich, zum Lehrer zu gehen und sich ebenfalls zu entschuldigen. Da in der Prüfung nicht nur die Techniken abverlangt werden, müssen auch die Haltung und die Manieren stimmen. Auch beim Nichtbestehen ist es üblich, sich beim Lehrer zu bedanken und zu versprechen, beim nächsten Mal mehr zu geben.
Während des Trainings herrscht strenge Disziplin. Wenn der Lehrer erklärt, hören selbst die Kinder zu. Keiner dreht dem Lehrer die Worte im Mund um oder meint es besser zu wissen als er. Alles wird so hingenommen wie dieser es sagt. Mitten im Training darf das dōjō, ohne dem Lehrer Bescheid zu sagen, nicht verlassen werden. Streit, Groll und negative Gedanken haben außerhalb des dōjō zu bleiben. Damit das Training trotz Disziplin lebendig bleibt, darf natürlich auch gelacht, jedoch nicht ausgelacht, werden. Kinder dürfen vor und nach dem Training gerne toben, während des Trainings ist das allerdings tabu.
Wenn ein anderer Lehrer während der Übungen erscheint und man selbst zu ihm mit dem Rücken steht, sollte man mit der Zeit die Fähigkeit entwickeln seine Präsenz zu „spüren“, denn sein Auftreten nicht zur Kenntnis zu nehmen und sich gar nicht umzudrehen, gilt als überaus unhöflich.
Bereits kleinen Kindern werden drei wichtige Begriffe beigebracht: aisatsu (Begrüßung), henji (Antwort) und kiai (Kampfschrei). Neben Begrüßung sollten die Schüler dem Älteren gegenüber laut und deutlich reden. Wenn dieser etwas erklärt, bestätigen die Schüler mit einem „osu“, dass sie alles verstanden haben. Es ist unhöflich schweigend oder teilnahmslos dazustehen und abzuwarten, bis der Lehrer selbst nachfragt, ob alle verstanden haben. Wenn man die Technik schnell ausübt, wird beim Angriff ein Kampfschrei, kiai ausgestoßen. Das richtige kiai kommt aus der Bauchmitte (hara) und muss nicht schön, aber laut sein. Auch die zeremonielle Begrüßung ist einer der Pfeiler der Etikette. Kniend verbeugt man sich zur Vorderseite, zum Lehrer und zu seinen senpai, sowie zueinander. Das Hinknien ist eine Disziplin für sich. Es ist wichtig sich nicht einfach auf den Boden „plumpsen“ zu lassen, sondern der Reihe nach und langsam auf die Knie zu gehen. Dabei bleibt der Rücken gerade und die Hände auf den Oberschenkeln. Beim Verbeugen gehen die Hände nach vorne vor die Knie und beim Aufstehen wird zuerst das rechte Bein hingestellt und dann das linke.
Der Sinn der Etikette liegt darin, Demut nicht nur gegenüber den Höhergestellten, sondern auch dem Leben gegenüber zu entwickeln. Auch die Kinder werden auf das Leben draußen vorbereitet. Auf dem geistigen Weg der Kampfkünste allgemein gilt es einen Kampf auszufechten: Den Kampf gegen sich selbst.
Quelle: DDK-Magazin Nr.46/Oktober 2009
*Anastasia Peschkow, 22 Jahre, studiert an der Universität Kyoto Japanologie und nutzt ihren Aufenthalt in Japan auch für das intensive Training im „Inyo Ryu Karate“. Sie ist Schülerin von Willi Donner, Düsseldorf.